Wie wird das Unbewusste bewusst?
Das mit dem Unbewussten ist so eine Sache: Über meine blinden Flecken kann ich nur sehr allgemein sprechen. Gewisse logische Überlegungen lassen mich vermuten, dass ich welche habe, kenne ich sie doch bei anderen recht gut. Bei mir aber finde ich keine – fände ich welche, wäre ich ja an der Stelle nicht mehr blind, sondern es wären einfach Flecken. Ja, Flecken, die habe ich. Ob die mich beschmutzen, dieses ethische Thema lasse ich jetzt mal beiseite und bleibe bei der Frage: Was ist mir bewusst?
Ohne Tunnelblick
Ich habe bei uns im Team zwei Stellen zu besetzen (die Bewerbungen laufen noch): einen Hausmeister und eine Person für die Geschäftsführungsassistenz. Für diese Stellen suchen wir zwei eierlegende Wollmilchsäue, d.h. die beiden müssen sehr vieles können – es sollen keine Spezialisten mit Tunnelblick sein. Obwohl wir nur einen Lohn von 401 € zu bieten haben, plus freies Wohnen in der Connectionhausgemeinschaft. Karrieristen im Rattenrennen unserer Gesellschaft wird das nicht anziehen, es braucht dafür hoch motivierte Idealisten, was zu der Frage führt, ob wir solchem Idealismus überhaupt selbst gerecht werden. Ich schrieb (in unserem Verlagsrundbrief vom Juli): »Wir haben auch selbst Defizite (Ach, wer hätte das gedacht …). In glücklichen Momenten ist uns das auch bewusst.«
In glücklichen? Wer uns ertragen muss, für den mag das ein glücklicher Moment sein. Für den, der sich eines Defizits gerade bewusst wird, ist es das erstmal nicht.
Worauf es ankommt
Dann pries ich meine und unsere autodidaktisch erworbenen Kompetenzen (Das ist der Fachausdruck für: Wir haben nichts richtig gelernt, aber den Mut, trotzdem was auszuprobieren). Und dass uns Selbsterkenntnis wichtig ist und wir ein Ort der spirituellen (nicht der sozialen!) Anarchie sind. Schließlich gab ich zu, dass man Weisheit nicht unterrichten kann, obwohl das doch eigentlich genau das ist, worauf es ankommt. Und es kommt uns darauf an ‘religiös’ zu leben, d.h. geborgen im Universum, aber ohne dafür einen Vermittler (einen Priester oder Guru, ein Channelmedium, eine Heilige Schrift oder sowas) zu brauchen. Passieren bei uns in der Gemeinschaft Erleuchtungserfahrungen? Ja, aber davon wird nicht viel Aufhebens gemacht, das kommt beim Abwasch, Rasenmähen oder Emails erledigen, eine große Story machen wir daraus nicht.
Wir erhielten in den Tagen darauf fünf höchst begeisterte Bewerbungen (»bin elektrisiert«) von sehr kompetenten Menschen, darunter die Leiterin einer 300-Betten-Klinik, die nach den Jahren im Gesundheitsbetrieb Schnauze voll hat von der Schulmedizin und der dort herrschenden Bürokratie und am liebsten sofort zu uns kommen möchte. Ein Leser schrieb, er habe den Text zweimal gelesen, obwohl er sich gar nicht bewerben wolle, aber es imponiere ihm, dass ich dort eigentlich nichts verspreche, sondern nur präsentiere, was nackt zu erwarten ist.
Nichts zu erwarten
Stimmt: Es ist bei uns eigentlich nichts zu erwarten. Ich empfinde mich sogar des öfteren als Wasserverkäufer am Fluss. Jeder kann doch selbst zum Fluss gehen und trinken, warum soll ich ihnen das Wasser verpacken und zum Kauf anbieten? Man braucht meine Zeitschrift nicht, meinen Verlag nicht und auch unsere Gemeinschaft nicht, jeder kann das alles selbst herausfinden, was wir publizieren. Andererseits … tun die Menschen das nicht. Leider. Manchmal genügt es, ihnen einen Liter Wasser anzubieten, für einen symbolischen Euro, und sie gehen dann selbst zum Fluss und trinken. Manche brauchen ein Abo, um immer wieder daran erinnert zu werden, dass sie selbst zum Trinken gehen können. Andere brauchen das Abo nicht, gönnen es sich aber (danke!). Wieder andere wollen zu uns kommen (siehe die Leiterin der Klinik) und uns helfen beim Verkaufen des Wassers, obwohl es das Wasser (die mystische Erfahrung/ die Heilung oder Ganzwerdung/ die Integration) doch auch im Fluss gibt, kostenlos und gut erreichbar.
Wie peinlich
Leider ist den meisten von uns das nicht bewusst. Ich erinnere mich noch gut, wie ich 1976 mit Roberto, meinem damaligen italienischen Freund und Mit-Samanera, John Blofeld besuchte, den berühmten Asien-Gelehrten und Spezialisten für Taoismus und chinesischen Buddhismus. Blofeld lebte nicht weit von Bangkok mit seiner Frau auf dem Land, und wir zwei jungen Mönche besuchten ihn, barfuß und in orangener Robe. Roberto wollte von ihm wissen, ob wir als junge Mönche im Theravada auf dem richtigen Weg seien. Blofeld, damals 63 Jahre alt, war diese Frage sichtlich unangenehm. Er wollte nicht verehrt werden und eigentlich auch niemandem einen Rat geben. So bemühte er sich, Roberto höflich zu antworten, dass schon alles irgendwie richtig sei, was er tat und getan hatte, während ich mich als Robertos Begleiter in der Peinlichkeit dieser Situation wand und froh war, als wir wieder draußen waren. Es war doch alles so offensichtlich! Niemand muss irgendwen fragen oder von irgendwem Segen oder weise Ratschläge erbitten.
Hilfe!
Andere können uns helfen, unsere eigenen blinden Flecken zu entdecken. Dafür sind Freundschaften und Beziehungen gut – und für die, die es wirklich wissen wollen und dabei vor nichts zurückschrecken gibt es dann noch die »Sangha« genannten Gemeinschaften, wo Erwachsene freiwillig zusammen wohnen, weil sie darauf erpicht sind, sich selbst zu entdecken. Weisheit aber lässt sich nicht vermitteln. Das Unbewusste wird eines Tages bewusst – falls wir Glück haben, die Umgebung passt und der Zeitpunkt der richtige ist. Niemand ist daran schuld, dass es passiert und auch nicht, wenn es nicht passiert. Dass wir selbst schon längst weise sind und dies nur beharrlich verleugnen, ist für die meisten von uns der größte blinde Fleck.