Mensch, werde wesentlich
Wer oder was steuert da eigentlich?
Die verflixten Fragen zur Orientierung auf dem Weg
Vielleicht brauchen wir bald Rating-Agenturen auch noch für die spirituellen Navi-Programme auf dem Markt, die sind ja noch riskanter als die Staatsfinanzen – und wehe, wenn mein geschätzter Yoga-Weg dann von Triple-A auf AA+ runtergestuft wird, weil die Risiken der Verrenkung oder des Missbrauchs durch den Guru dort zu hoch sind! Nein, so schlimm wird es wahrscheinlich nicht kommen. Es gibt ja auch noch gute alte Orientierung nach innen: Horche in dich hinein, was für dich stimmt
Die ersten Monate liegen wir nur da. Wir trinken, schlafen und weinen ab und zu ein bisschen. Dann krabbeln wir ein paar Monate lang, der Aktionsradius ist noch sehr bescheiden. Ab ungefähr einem Jahr können wir gehen. Wohin? Bis zur Tür, dem Gartenzaun oder dem Ende des Spielplatzes, dann holt uns Mutter zurück. Ungefähr siebzig Jahre später wird das Gehen wieder schwer. Manche von uns bewegen sich dann nur noch am Stock, im Rollstuhl oder liegen im Bett, so wie früher. Und dann geht gar nichts mehr. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt in Mitteleuropa bei etwa achtzig Jahren. Vielleicht 70 Jahre davon können wir gehen, ungefähr fünfzig Jahre autofahren und ins Flugzeug steigen. Doch: Wohin gehen wir da?
70 Jahre äußere Bewegung
Zwischen dem Bett der ersten und dem der letzten Monate können wir vom Küchentisch zum Klo, von der Wohnung zum Arbeitsplatz, vom Mutterland an den Urlaubsort und wieder zurück einige Bewegungen machen. Gut so. Soweit das Äußere. Und was passiert dabei innen? Auch da bewegt sich was. Da entsteht eine Persönlichkeit, ein Wesen, das sich identifizieren kann und will und sich vielleicht für einzigartig hält. Ein Wesen, das sich je nach Umgebung ein bisschen anders verhält. Wer steuert dieses Wesen? Hat es überhaupt eine Steuerungszentrale, und wenn ja, was für eine? Kann man die programmieren? Und wenn ja, was ist für diese siebzig Jahre, in denen wir uns bewegen können, das beste Programm?
… und innere Entwicklung
Es gibt Menschen, die denken, sie seien auf dem spirituellen Weg. Darunter verstehen sie, dass sich für sie nicht nur äußerlich etwas bewegt, sondern auch innerlich, und dass ihnen das ein bisschen bewusst ist. Die Bewegung besteht nicht nur darin, dass da Gedanken vorüberziehen und Gefühle kommen und gehen, sondern auch, dass, wie in einem richtig guten Entwicklungsroman, die Heldin oder der Held an den Herausforderungen des Lebens wächst und sich verändert. Und nicht nur das: Wir Helden verändern uns nicht nur irgendwie, sondern in eine gute Richtung, hin zu mehr Verständnis, Liebe, Bewusstsein, Mitgefühl, zu einer Ausweitung dessen, wofür wir uns halten, einer Ausweitung unseres Ichgefühls, unseres Bewusstseins von uns selbst. Mit dann oft auch einem großen Ziel: Erleuchtung zu erlangen oder Erlösung, bedingungslos lieben zu können und das Werden-und-Vergehen des ewigen Lebensflusses zu verstehen.
Gesucht: die Steuerung
Sollten wir diesen Werdegang einfach so dahingehen lassen – kommt dies, kommt das, es wird schon das Richtige sein – oder brauchen wir dafür eine Steuerung, die diesen Werdegang optimiert? Wenn ja, was müsste das für eine Steuerung sein? Woran soll sich diese orientieren? Vielleicht ein Verschnitt aus den Zielen der großen Religionen und der vielen spirituellen Wege, so eine Art Vektordiagramm, der resultierende Pfeil wird dann schon in die richtige Richtung weisen? Vermutlich käme dabei keine gute Richtung raus, die Wege und Religionen der Weltkulturen sind doch zu verschieden. Also besser das machen, was schon meine Eltern gemacht haben? Aber unsere Zeit heute ist doch eine andere! Und wenn ich einfach das mache, was die meisten anderen auch machen? Nicht doch, das kann schlimm enden, das haben wir doch gesehen. Also: Woran soll ich mich dann orientieren?
Die Qual der Wahl
Manche derart Verunsicherte versuchen nun, das richtige Steuerungsprogramm aus ihrem Geburtshoroskop herauszulesen. Oder sie erkunden es nummerologisch. Oder nach dem Mayakalender. Oder mithilfe der Tarotkarten (– aber welche nehme ich da?). Oder auf Grund eines Psychotests (Aber welchen denn?). Besser ich mache mal einen Enneagramm-Workshop und weiß dann: Eine Drei mit einer starken Zwei als Nebenfunktion müsste mir …. Was aber, wenn sich der Enneagrammgruppenleiter geirrt hat, und ich bin gar keine Drei? Außerdem gibt es Millionen von Dreien, und die gehen alle sehr verschiedene Wege! Also doch das Geburtshoroskop zuhilfe nehmen. Hoffentlich das richtige, und der Astrologe hat sich nicht verrechnet, und das mit der Präzession der Erdachse spielt hierfür keine so große Rolle, und das chinesische und das indische, das ignorier ich jetzt mal einfach, man muss doch irgendwann zur Sache kommen.
Mal dies, mal das
Tatsache ist, dass wir uns mal an diesem, mal an jenem Programm orientieren und mal an diesem, mal an jenem Menschen, und dass wir uns dabei eine bestimmte Identität zuweisen lassen, ein bestimmtes Selbstverständnis, und wir damit meist auch Entwicklungsweg empfohlen bekommen. Mal orientieren wir uns an dieser, mal an jener heiligen oder profanen Schrift, und mal praktizieren wir auf diese, mal auf jene Weise. Ob wir für den Weg einen Guru brauchen oder gerade lieber alle Gurus meiden sollten, darüber ist schon viel geschrieben worden. Ebenso über den Wert des Alleinseins, den so viele Eremiten und Meditierer vor uns gegangen sind, und den der Gemeinschaft, der uns in so vielen Klöstern und Sanghas vorgelebt wurde. Und ob es eine alte Religion sein sollte und ein alter religiöser Weg, gediegen und gereift durch Jahrtausende der Erfahrung, oder ein neuer, der die Erkenntnisse der moderen Psychologie und Gehirnforschung, womöglich auch der Quantenphysik einbezieht. Auch, wie lange wir bei einem Menschen, in einer Gruppe von Weggefährten oder bei einer Methode bleiben sollten, also der Wert der Treue gegenüber dem Wert des Mutes zu einem Neubeginn, ist viel diskutiert worden, und ebenso der Wert des äußeren Reichtums oder der äußeren Armut gegenüber dem inneren Reichtum und der inneren Schlichtheit.
Das Besondere am Spiri-Navi
In mancher Hinsicht ist die Frage nach der spirituellen Orientierung der nach einer weltlichen Orientierung sehr ähnlich. Auch was die berufliche, partnerschaftliche, familiäre oder gesundheitliche Orientierung anbelangt, kann es ein Zuviel an Außenorientierung geben und ein Zuwenig, und man kann den falschen Ratgebern auf den Leim gehen oder aufblühen mithilfe der richtigen. Bei der Frage der spirituellen Orientierung ist die Gefahr insofern größer, als dort die Forderung nach einer nicht nur bereichsbezogenen Zuwendung, sondern einer totalen, alles umfassenden Hingabe häufiger gestellt wird. Das gibt es zwar in Familien und Partnerschaften auch, manchmal sogar in einer Arbeitsbeziehung, aber auf dem spirituellen Weg kommt es häufiger vor und wird von vielen größeren Autoritäten untermauert: Um Gott zu treffen oder Erleuchtung zu erlangen musst du alles geben und darfst nichts zurückhalten!
Geh aufs Ganze!
Sollten wir auf solche Forderungen nach Totalität hören? Kommt drauf an. Wenn ein Guru dich damit vereinnahmt, in seinen Clan zerrt und auch in Sachen Gesundheit, Beruf, Geld und Beziehung über dich bestimmen will, ist das höchst gefährlich – für dich ebenso wie für den Guru, denn auch ihm oder ihr tut solcher Größenwahn nicht gut. Wenn die Forderung aber lautet, dass alles, was du erlebst und erfährst, alle deine Gedanken und Gefühle und jeder Schritt in deinem Leben, für dich und deinen Weg und dein Wachstum eine Rolle spielen, dann ist diese Totalität richtig. Unsere Ausrichtung auf Liebe, Achtsamkeit, Bewusstsein sollte total sein, sie sollte nichts außen vor lassen. In einer solchen totalen Neuausrichtung aber kann man seine alten Beziehungen, seinen Besitz, seinen Beruf, seinen Standort durchaus beihalten. Kann man, muss man nicht, sollte man aber in vielen Fällen. Die Veränderungen in diesen Bereichen wollen allemal gut überlegt sein, und diese Überlegungen sollten nicht von einer Forderung nach »totaler Spiritualität« niedergewalzt werden.
Die Ethik
Und wie hältst du's mit der Ethik? Ist es so, dass das hohe Ziel auch niedere Mittel rechtfertigt? Eher nein, würde ich sagen. Und dass die Liebe das einzige Gesetz ist? Eher nein, würde ich sagen. Und dass es egal ist, welchem ethischen Kodex du folgst, wenn es nur ein alter, seit vielen Generationen erprobter ist, und du ihn streng befolgst? Eher nein, würde ich sagen. Verletze nicht. Tu Gutes, und damit meine ich: Beschenke andere mit dem, was was sie haben wollen und nicht mit dem, was du denkst, dass sie haben sollten, auch wenn du meinst, dass sie es brauchen (– auch hier gibt es Ausnahmen). Halte die Weisheit hoch, aber dräng sie niemandem auf. Wenn du auf deinem Weg Fortschritte machst, achte darauf, das sie von der Einbildung, damit ein Fortgeschrittener zu sein, nicht wieder zunichte gemacht werden.
Ratgeber und Metaratgeber
Mir wurde schon oft vorgeworfen, dass ich zu viel gelesen hätte und ebenso oft, dass ich zu wenig gelesen hätte. Dass ich mich zu sehr auf mich selbst verlasse oder zu sehr auf andere höre. Dass ich zu viel rede oder zu wenig. Es gibt immer jemand, der meint, es besser zu wissen als ich. Und dann gibt es auch noch diejenigen, die mich darin coachen wollen, nur auf meine innere Stimme zu hören – für 120 Euro die Stunde.
Meine innere Stimme? Es sind deren ziemlich viele. Ungefähr so viele, wie ich in der Außenwelt Ratgeber gehört habe. Was natürlich nun einen Ratgeber verlangt, der mir sagt, wie ich mich all diesen Ratgebern am besten umgehe. Und dann einen, der mir hilft, von diesem Metaratgebern wieder loszukommen.
Die Paradoxie der Steuerung
Das Verrückte bei diesen Fragen nach der richtigen Steuerung ist ja, dass sie letztlich alle paradox sind. Wenn ich nach einem Ratgeber frage, muss ich auch nach dem (inneren oder äußeren) Ratgeber fragen, der mich dabei berät, den richtigen Ratgeber zu finden. Wenn ich mein spirituelles Navi neu programmieren will, welches Programm oder welche Person berät mich dabei? Wenn ich einer Autorität auf dem Leim gegangen bin, welche Autorität sagt denn, dass das so ist und versucht mich nun von dieser angeblich falschen Autorität loszueisen? Und auch die donnernde Stimme des »Hör auf dich selbst!« ist eben das: eine donnerne Stimme, die gehört werden will.
So ist es letztlich nicht ganz falsch zu sagen: Ich tue eben, was ich tue. Meine Bedürfnisse, Ziele, Wünsche und Sehnsüchte steuern mich. Und wenn ich dabei zeitweilig ein mir gut erscheinendes Fremdprogramm in mein Navi einlege, dann tu ich das, weil es mir gemäß meinem Programm richtig zu sein scheint, mal ein Fremdprogramm einzulegen.
Qualitätsprüfungen
Was, wenn du seit zwölf Jahren auf einem spirituellen Weg bist, machst täglich deine Praxis, und plötzlich kommt eine Rating-Agentur daher – nennen wir sie einfachheitshalber Standard & Extremely Poor – und die stuft die Bonität deines spirituellen Weges per Info an die Medien um zwei Stufen herab. So geschehen, als nach Mutter Teresas Tod ihre Tagebücher veröffentlicht wurden und in vielen, vielen anderen Fällen. Was machst du? Wälzt du dich nun schluchzend auf dem Boden deines Meditationsraums und wählst einen von den Medien und selbsternannten Qualitätsprüfern besser beurteilten Weg? Vermutlich nicht. Du wirst nach diesen zwölf Jahren wissen, was du davon hast, diesen Weg zu gehen und weitermachen. Nicht verbissen, aber mit Hingabe. Was gelegentliche kritische Prüfungen nicht ausschließen sollte.
Spirituelle Konditionierung
Wer von einer weltlichen Konditionierung stark geprägt wurde und darunter leidet, wird sich eine spirituelle Konditionierung ersehnen, die ihn davon befreit. Wenn das gelungen ist – ja, manchmal gelingt das –, dann braucht es nun eine Befreiung auch von dieser spirituellen Konditionierung. Man will doch nicht, nach dieser schönen Erfahrung, den Rest des Lebens herumlaufen und ständig vor sich hinmurmeln »Auch das ist Gott!« – oder Entsprechendes, je nach dem religiösen Programm, dass man gerade absolviert hat. Wenn du den Fluss überquert hast, mach die Fähre nicht zum Hausboot. Modern gesprochen: Wenn du am Ziel angekommen bist, brauchst du das Navi nicht mehr.
Vorsicht: Herz!
Nach all dem, was über den Wert von Methoden und Displin, mit oder ohne Lehrer, mit oder ohne Sangha gesagt wurde, seit Jahrtausenden in den alten Traditionen und heute wieder in den neuen – es bleibt doch immer das: Geh einen Weg mit Herz! Womit wir bei dem perfekten Tarnbegriff angekommen wären, dem Joker unter allen spirituellen und Psycho-Begriffen. Denn wer sich diesen Begriff überzieht, kann sich damit einschleichen in die … ja, Herzen aller, die noch richtig richtig wissen wo es lang geht. Die es noch nicht von sich aus wissen, unbeeinflussbar von außen, und das sind die meisten von uns. Denn im Mäntelchen des Herzens wird gepredigt was das Zeug hält, gute und schlechte Disziplinen, engherzige und weite, alles. Herz hat immer der, der gerade spricht, herzlos sind die anderen.
Deshalb: Probier's aus! Tu dabei keinem weh. Nimm nicht alles für bare Münze, was gesagt wird. Lasse dich belehren, aber nicht zu sehr, und geh dann weiter deinen eigenen Weg, deinen ureigenen, denn wo du gehst, das ist der Weg.
Abschied
So vergehen die Jahre. Mal wirst du alles richtig finden, was du tust, mal alles falsch; meistens liegt dein Urteil über dich selbst wohl irgendwo dazwischen. Selbst wenn du auf deinem langjährigen, anstrengenden Weg alles falsch gemacht haben solltest: Wenn du dann mit 70, 80 oder 90 wieder im Bett liegst und nicht mehr gehen kannst, ist es schnurzegal, ob der Weg, den zu zurückgelegt hast, ein korrekter war oder nicht. Dann heißt es Abschied nehmen – erst von der Beweglichkeit, dann auch von diesem Körper und dem Weg, den du damit hast gehen können. Hoffentlich hast du dich dabei ein bisschen innerlich entwickelt, so dass dir dieser Abschied nun leicht fällt und du nun fröhlich weiterziehen kannst, fröhlich und heiter. Denn für das, was nun kommt, gibt es kein Navi mehr.
Wolf Schneider, Jg. 1952, Studium der Lebenskunst seitdem. Hrsg. der Zeitschrift connection seit 1985. 2005 Gründung der »Schule der Kommunikation«. Kontakt: schneider@connection.de, Blog: www.schreibkunst.com.
Weitere Kolumnen von: Wolf Schneider
|
|
|
Weitere Kolumnen von: Wolf Schneider
Radio-Interview mit Wolf Schneider:
Teil 1 -
Teil 2 -
Teil 3 -
Teil 4
Wolf Schneider
Wolf Schneider, Jahrgang 1952, studierte Naturwissenschaften und Philosophie in München. Schon während seines Studiums begab er sich auf Reisen. Die nächsten Jahre verbrachte er in Europa und Südasien, wo er ab 1976 als buddhistischer Mönch in Thailand lebte und von 1977-1990 Schüler von Osho war. Zurück in München gründete er 1985 die Zeitschrift connection, die noch heute als connection Spirit mit der Sonderheftreihe connection Special erscheint. Seinen 2005 gegründeten Verlag mit integrierter "Schule der Kommunikation" wandelte er Anfang 2008 erfolgreich in eine AG um. Im Connectionhaus veranstaltet er Jahrestrainings unter dem Motto: "Kreativität, Kommunikation und Inszenierung". Mit seiner offenen, ehrlichen und humorvollen Art zu kommunizieren, schenkte er uns ein wunderbares Theaterstück (Zauberkraft der Sprache) und zahlreiche Bücher, die uns Leser in eine spannende Welt der Spiritualität entführen. Sein neuestes Buch: "Das kleine Lexikon esoterischer Irrtümer" erscheint im August 2008 im Gütersloher Verlagshaus.
Zusätzliche Informationen:
» www.wolf-schneider.info
Weitere Texte von W. Schneider:
» www.schreibkunst.com
Connection AGWolf Schneider
»Info-Seite im Portal
www.connection.de
|