Vom narzisstischen Ich der Babyboomer geht der Trend in den Psycho- und Spiri-Szenen zur Zeit gerade hin zum Wir, zur Gemeinschaft. Das ist an sich noch kein spiritueller Fortschritt. Dazu bräuchte es Transparenz: Das All muss durchscheinen durch das Wir, sonst ist das Wir nach der Illusion des Ich nur eine etwas größere und mächtigere Illusion. Und es braucht Ethik: Auch die Mafia und das Militär sind Gemeinschaften mit starkem Wir-Gefühl – es kommt halt immer darauf an, mit wem und was wir uns da verbinden.
Ich – wir – alles. Wie ist das einzuordnen? Wir Menschen stellen uns diese Frage heute anders als früher. Hoffentlich ein bisschen präziser, reifer, einsichtiger als frühere Generationen. Zu den früheren gehört die Ich-Generation der Babyboomer. Da wollte man Außenseiter sein, Freak, Hippie, Spiri oder sonstwie Abtrünniger. Mit der Massengesellschaft wollte man möglichst wenig zu tun haben, zum Mainstream zu gehören war verpönt. Am besten war (und ist noch immer): man selbst zu sein, heißt es, so mysteriös wie missverständlich. Ich selbst! Indienfans sagen dazu: Atman ist Brahman, das ist die Essenz des Hinduismus – das hohe Selbst ist Gott, ist alles. Ich bin Gott. Entsprechend verkündete die Psycho-Szene die Präferenz der Ich-Botschaften: Sag nicht, »man« solle etwas tun, sondern sag: »Ich« mache das so. Nur das Ich galt ihnen als authentisch, mit einem »man« verstecke man sich, hieß es. So entstand der Narzissmus der Psycho- und Spiri-Szenen, oder das, was die Mainstreamer dafür hielten – die Spiris selbst empfanden sich damit als hochreligiös. Hochreligiös? Alles nur Nabelschau, sagten die Mainstreamer und waren sich sicher, dass für diese Psychos sich alles doch nur um sie selbst drehte.
Schluss mit dem Narzissmus
Auch wenn die Psychos und anderen Pfadfinder auf dem heiligen Weg der Selbstentwicklung das gewiss nicht so meinten, manchmal war es doch so, dass sich alles nur um sie selbst drehte. Auch böse Zungen haben manchmal Recht. Und so wendet sich der Trend nun, weg vom Ich, hin zum Wir. Überall wird das Wir verkündet, die Gemeinschaft, die Solidarität, das aufeinander Bezogensein. Gut so. Und doch: Auch das hat seine Schattenseiten.
Einfach nur »wir« zu sagen statt »ich«, das ist noch kein Fortschritt. Auch das Militär bildet eine große Gemeinschaft, in der das Wir-Gefühl stark ist. Ist es das, was die neue Wir-Bewegung will? Eine Kampf- und Verteidigungsgemeinschaft? Da ist man sogar auf Leben und Tod aufeinander angewiesen, es ist also »echt intensiv« und gewiss so verbindend wie die Kameradschaft unserer Großväter an der Front. Oder die Paarbeziehung: Was vorher das Ego des einsamen Singles war, ist nun zum Doppelego eines Paars geworden – wir beide gegen den Rest der Welt. Eine gepflegte Lebenslüge (z.B. »Ich bin genial« oder »Ich bin hochsensibel«) allein aufrecht zu erhalten, ist schwer. In einer Paarbeziehung geht das leichter: Ich bestätige deine Lebenslüge, dafür bestätigst du meine. Perfekt. Bei gelingender Kommunikation funktioniert das auch in Gruppen und größeren Gemeinschaften bis hin zur Volksgemeinschaft.
Das Große Ganze
Die Grenze weiter zu fassen als das kleine Ich – das Ego – sie zieht, um ein größeres Etwas herum, ist noch kein spiritueller Fortschritt. Sonst wäre es ja auch spiritueller, einen Hektar Grund zu besitzen als nur tausend Quadratmeter, und ein Land wie Deutschland wäre spiritueller also eines, das nur so klein ist wie Dänemark oder die Schweiz. Spiritueller Fortschritt ist die Ausweitung der Grenze nur dann, wenn im Vorgang der Ausweitung die Unendlichkeit hindurchscheint. Wenn im Vorgang des »Auch du gehörst zu mir/zu uns« (klassisch: Auch das bin ich, tat tvam asi) die ganze Weite des Alls spürbar wird. Mystisch ist eine solche Ausweitung erst dann, wenn dabei das Ich sich im All auflöst, das erreichte Wir also wirklich alles umfasst – es kennt dann kein Ihr, keinen anderen, kein Außerhalb mehr – die Außenwelt ist zur Innenwelt geworden, alles ist miteinander verschmolzen. Selbst die populäre Metapher des Tropfens, der in den Ozean fällt, umfasst das noch nicht vollständig, denn da wären dann ja die Kontinente, die aus dem großen Ozean herausragen, die zu befeindenden Abtrünnigen, und auch die Atmosphäre ist draußen, vom Rest des Weltalls mal ganz zu schweigen.
Ja, das ist groß. Fangen wir lieber klein an: bei unseren Geliebten, unserer Familie, den Mitbewohnern und Nachbarn. Genau darin findet die buddhistische Sangha ihren Sinn: Im Zusammensein mit anderen können wir erkennen, dass unser Ich nicht fest ist, sondern beweglich. Es ist erschütterbar und kann sich entwickeln. Es ist klein, und doch manchmal so größenwahnsinnig.
Spirituelle Praxis
Obwohl ich, wie wohl alle, auch als Kind und Jugendlicher schon Transzendenzerfahrungen hatte, habe ich das, was man im üblichen Sinne einen spirituellen Weg nennt, erst im Alter von 22 Jahren begonnen, als Mönch in der Sangha (= Gemeinschaft) eines buddhistischen Klosters in Thailand. Habe danach zweimal selbst eine sprituelle Gemeinschaft gegründet: 1980 als Osho-Sannyasin den Divya-Ashram in Mittelfranken, der später zum Chödzong-Zentrum einer tibetisch-buddhistischen Gemeinschaft wurde; das zweite Mal 1991 die transkonfessionelle Lebens- und Arbeitsgemeinschaft in Niedertaufkirchen, Oberbayern, in der ich bis heute lebe und die Zeitschrift connection spirit herausgebe. Was macht dieses Leben in Gemeinschaft mit meinem Ich- und Wir-Gefühl, mit meiner Identität?
Viel. Die spirituelle Praxis der Frage »Wer bin ich?« (Für wen halte ich mich denn heute wieder – als täglicher, ja stündlicher reality check) wird durch solch eine Gemeinschaft konkreter, fassbarer, unausweichlicher. Die Lebenslügen bröckeln da schneller, das Ich wird transparenter. Wenn auch die anderen Teilnehmer der Gemeinschaft sich diese Frage stellen – die Kernfrage aller spirituellen Praxis – dann entsteht dabei nicht die übliche kollektive Suggestion gegenseitiger Bestätigung der gerade aktuellen, populären Lebenslüge (Wir sind besser, effektiver, bewusster, spiritueller als ihr), sondern Reibung: Fremd- und Selbstbilder stoßen aufeinander und werden so korrigierbar.
Umringt und eingebunden
Grad sah ich meine Katze über die Straße laufen, über die doch recht stark befahrene Straße vor unserem Haus. Da hatte ich Angst um sie. Trotzdem werde ich sie nicht im Haus einsperren. Auch Tiere gehören zu unserer Gemeinschaft (ein weiterer Grund, sie nicht zu essen, finde ich: Meine Freunde ess ich nicht!). In ein paar Wochen kommt unser Kind auf die Welt. Das werden wir, wenn es dann gehen kann, es natürlich nicht so einfach rauslaufen lassen auf die Straße. Am Freitag kommt unsere Bio-Kiste. Sollen wir sie auf das in unserer Region Angebaute beschränken? Ja, machen wir. Alltagsentscheidungen in einer Gemeinschaft, uns selbst und die vielen Ringe von Wir-Identifikationen betreffend (mein Kind, meine Katze, meine Region), die sich um die kleinen, respektablen Ichs der Bewohner herum gebildet haben – wir sind umringt. Und auch das: eingebunden.