Über das Leben zwischen den Stühlen
Aus dem religiösen Pathos überzugehen in echte Religiosität ist ungefähr so schwer wie aus der Verliebtheit zur echten Liebe. Es ist die Kunst der Landung nach dem Höhenflug. Wer die Landung nicht schafft, sondern abstürzt, endet nicht ernüchtert, sondern verbittert und leckt meist noch Jahre nach dem Absturz die dort erhaltenen Wunden.
Meist beginnt die Verbitterung der (Neo)»Anti-Religiösen« damit, dass sie andere für ihren Absturz verantwortlich machen. Beim Ende der Verliebtheit ist es ähnlich: Da wird das einstige Objekt der Faszination nun zum Schuldigen erklärt: Du! Du bist schuld! Du »hast mich« (!) so enttäuscht. Beim Absturz aus dem religiösen Pathos ist es der Guru, die Methode oder gleich die ganze Religion, der religiöse Weg, die religiöse Gruppe, Sekte oder Kirche, die den armen Trost oder Glauben Suchenden enttäuscht hat.
»Enttäuschungen«
Der Übergang zur reifen Religiosität ist gewiss eine »Enttäuschung«: Man glaubt nun nicht mehr an den Weihnachtsmann, den gütigen Vatergott, die Unfehlbarkeit des Gurus, Pfarrers, Papstes, Heilers oder Therapeuten. Was bleibt, ist in diesem Falle jedoch Ernüchterung, nicht Verbitterung. Und dies ist etwas Positives: Die Ernüchterung nach all dem Pathos befreit und autorisiert das Individuum: Nun bin wieder ich dran, ich allein, mit all meiner Verantwortung für mein Leben und für wen oder was ich darin verehre.
Wo sind die Ratgeber für die religiös Abgestürzten?
Es gibt so viele Beziehungsratgeber, die beanspruchen, die romantisch Ver- und dann wieder Entliebten auf den Pfad der wirklichen, reifen, alles integrierenen Liebe zu führen, die nicht mehr verdrängt und keine Schattenträger mehr braucht. Warum gibt es keine dem entsprechenden Ratgeberbücher (und auch kaum Ratgeberpersonen), die das für die religiös Abgestürzten tun? Ist das so viel schwieriger? Es bricht doch in beiden Fällen ein ganzes Weltbild zusammen.
Achtsamkeit ist der Weg
In beiden Fällen ist Achtsamkeit der Weg. So einfach ist das. Der Rückweg aus dem religiösen Pathos ebenso wie aus der Phase der blinden Verliebtheit, von Wolke sieben zurück auf die Erde – wenn bei dieser Rückkehr aus der Enttäuschung nicht Verbitterung werden soll, ist Achtsamkeit nötig. Und auch das: Verstehen! Es ist gar nicht so leicht, nach all der Euphorie, dem Glück und Schmerz, jetzt wieder den Verstand einzusetzen und sich die Mühe zu machen Zusammenhänge zu verstehen, ohne dabei irgend jemand zu beschuldigen (und damit die eigenen verdrängten Anteile auf einen anderen, dafür geeigneten Träger zu projizieren).
Auf das Verstehen kommt es an
Die ganze Welt könnte vom nationalen und religiösen Pathos befreit werden, wenn diese Zusammenhänge verstanden würden. Dabei dürfen die Wissenschaftler durchaus auch mal messen, wie hoch der Serotoninspiegel ist (und was sonst für Hormone dabei sind), wenn ein Patriot die Flagge schwingt oder ein Christ bei einer Prozession unter dem Kreuz marschiert. Und dann bitte vergleichen – Wissenschaft lebt vom Vergleichen. Und dann ein paar Schlüsse daraus ziehen. Den Fanatismus verstehen, den Jihad, die nationalen Kriege, die Rechthaberei (sei sie nun national, religiös, familiär, rassistisch oder in schlichterer Weise egoistisch). Das in Bezug bringen (Korrelationen finden) zur Biografie ebenso wie zum Hormonspiegel, der diese Gefühle begleitet oder sie sogar auslöst. Das meine ich mit Verstehen. Solch ein Verstehen nimmt der Meditation, der echten Mystik, der Transzendenz nichts weg, im Gegenteil: Es befreit die echte Religiosität von dem Müll drumrum.
Ernüchterte als »Verräter«
Nicht nur die Verbitterten (weil Abgestürzten) betrachten die Religiösen als Feinde (oder etwas milder: als Irre), auch die Religiösen (ihre Pathetiker und Eiferer und mit ihnen gleichauf die esoterischen Romantiker) pflegen ihre Feindbilder und Schuldzuweisungen: Für sie sind die Ernüchterten Verräter. Ein Wunder, dass meine kleine Zeitschrift immer noch Abonnenten hat – ein kleines, erfreuliches Wunder. Etliche haben jedoch schon gekündigt aus genau diesem Grund: Ich sei von der wahren Religiosität abgekommen, nun nicht mehr »im Herz«, sondern »im Mind« oder würde nun saure Trauben verkünden, weil ich »die Erleuchtung« nicht erreicht hätte.
Der Schatten
Diese Ausgrenzung als Verräter scheint es in allen religiösen Richtungen zu geben. Die noch nicht Gläubigen werden eifrig und freundlich umworben (Heidenmission). Die nicht mehr Gläubigen hingegen gelten als gefallene Engel (Luzifer). Christen und Moslem gingen (oder gehen noch) mit den in dieser Hinsicht »Gefallenen« ähnlich bösartig um. Wer einen Schatten zu verdrängen hat, fühlt sich zu solcher Ausgrenzung getrieben, im Extremfall bis zur physischen Vernichtung, denn das Verdrängte lugt noch überall aus den Ritzen. Esoteriker sind in der Hinsicht in der Regel ein bisschen weniger fanatisch, aber die psychische Grunddisposition ist bei ihnen die gleiche.
Jiddhu Krishnamurti
Nach seinem Abschied von der Theosophie hatte Jiddhu Krishnamurti zunächst viele Feinde, war er doch nun nicht mehr der Weltlehrer, als der er so sorgfältig ausgebildet worden war und umgeben von seinen enttäuschten einstigen Förderern. Wie mutig von ihm, aus diesem System auszubrechen, das ihn doch erst »erschaffen« hatte! Was für eine grandiose Ernüchterung! Ich liebe ihn für diesen Mut und auch für seine Bescheidenheit, nun vor viel kleineren Fangruppen sein Lehrerdasein zu fristen und dabei unbeirrbar zu warnen vor der Verführung durch das den Entrückten doch so schmeichelnde religiöse Pathos.
Politische Härte
Ende August 2009 hatten Redakteure der Heute-Journals vom ZDF die Pressemeldung meines Buchs »Kleines Lexikon esoterischer Irrtümer« erhalten, in deren Überschrift es hieß: »Insider steigt aus«. Zwei von ihnen wollten das Buch des Ernüchterten in die Tagesnachrichten bringen und sprachen lange und mit einer gewissen Begeisterung darüber mit der Frau, die ich als Kontakterin in dieser Sache beauftragt hatte. Schließlich sagten sie ab. Warum? Grund war eine Anweisung von oben: Für den verantwortlichen Chefredakteur war die Nachricht »nicht politisch hart genug«.
Was ist hier wohl mit »politischer Härte« gemeint? Ich vermute dies: Der Aussteiger ist leider kein Verbitterter, sondern ein Ernüchterter, der immer noch religiös ist, spirituell oder esoterisch, aber nun nicht mehr naiv. Sowas aber brauchen die Medien nicht, das ist für sie keine Nachricht. Auch die anderen großen Medien sagten nach anfänglichem Interesse fast ausnahmslos ab. Nur ein Verbitterter mit einem Rundumschlag gegen seine ehemalige Heimat wäre für sie eine »politisch harte« Nachricht gewesen.