Mensch, werde wesentlich
Die spirituelle Revolution Teil 1
Das Erwachen als Massenphänomen hat so seine Tücken
Unsere heutige Gesellschaft gleicht in religiöser Hinsicht ein bisschen der des römischen Reichs im vierten Jahrhundert: Da wurde eine gesellschaftliche Randgruppe zur religiös-ideologisch dominanten Gruppe, die dann anderthalb Jahrtausende sehr bestimmend war. Und auch mit der Entwicklung des Jazz und Rock zur Popmusik lässt sich der Vorgang vergleichen: Die heutige Popspiritualität ist ein Massenphänomen. Das darf uns durchaus begeistern! Bei so viel Pop, Kommerz und Masse braucht es aber auch ein paar kritische Stimmen – und »zweite Helfer«
Schon einige Male habe ich ein Connection-Heft mit dem Schwerpunktthema »Erwachen« oder »Erleuchtung« gemacht. Jedes Mal habe ich mich dabei gefragt: Was weiß denn ich davon? Wäre es nicht besser, jemand zu fragen, der darüber Bescheid weiß? Jemand, der sich da auskennt, der oder die »es« erfahren hat?! Diese Menschen würde ich dann befragen oder von ihnen Textausschnitte bringen über das Erwachen, die Erleuchtung, diesen hohen Gipfel am Ende der spirituellen Pfade – diesen Mount Everest unter den spirituellen Höhen, auf dem die Atemluft vielleicht schon zu dünn ist für mich, der doch nur die niederen Regionen gewohnt ist.
Wer weiß ...
Was aber, wenn ich bei einer solchen Befragung einem Scharlatan aufsäße, der behauptet erwacht zu sein, ohne es zu wirklich sein? Reingefallen auf einen Heuchler, einen Pseudo-Meister, einen Verkäufer von Illusionen? Selbst eine Beschränkung auf Buddha-Zitate wäre noch keine Lösung, denn auch bei diesem seit 2.500 Jahren und heute in aller Welt verehrten Meister muss ich entscheiden, ob ich ihm (und den Übersetzungen) trauen kann. Auch wenn Millionen Menschen Buddha für erwacht halten – sie können sie irren. Weisheit ist nicht demokratisch zu bestimmen.
Ich habe mich deshalb entschieden, bei dieser Untersuchung des »erwachenden Bewusstseins« sowohl Innenschau wie Außenschau einfließen zu lassen. Zum einen möchte ich berichten, was ich selbst weiß, verstehe, erfahren habe und erfahre, zum anderen das, was ich von anderen gehört habe und zu verstehen glaube, wenn ich ihnen zuhöre oder ihre Texte lese – von Menschen, die sich als erwacht oder erleuchtet bezeichnen oder von ihren Fans, Beobachtern oder Kritikern als solche bezeichnet werden.
Meine Erleuchtungsbiografie
Zunächst wieder etwas aus meinem Leben. Wenn ich eine Kurve zu zeichnen hätte, die auf der einen Koordinate mein Lebensalter zeigt und auf der anderen mein Interesse am Erwachen alias an der Erleuchtung, würde diese zum Alter von 22 hin steil ansteigen und einen Gipfel erreichen. Über das Alter von 23 und 24 Jahre würde sie noch auf hohem Niveau bleiben, um dann von dort aus allmählich abzufallen, bis sie in Richtung auf die Gegenwart gegen Null geht.
Was ist da passiert? Habe ich mich nach diesen Jahren höchster spiritueller Motiviertheit auf andere Ziele ausgerichtet? Waren da irgendwelche großen Enttäuschungen? Ein Hinwenden zu anderen Zielen war es in meinem Falle eigentlich nicht, sondern eher das Verschmelzen anderer Ziele und ganz alltäglicher Verrichtungen mit dem Streben nach Erleuchtung, das dann aber zu einem Streben nach Achtsamkeit, Wachheit oder Präsenz wurde. Enttäuschungen? Im Sinne von »Desillusionierung«, ja, da gab es Enttäuschungen, aber nicht im Sinne von Unglück. Diese Enttäuschungen waren keine Unglücksfälle, sondern eher so etwas wie in dem Märchen von »Hans im Glück«: Dort tauscht Hans die eine Last immer wieder gegen eine andere ein, den Goldklumpen gegen ein Pferd, das Pferd gegen eine Kuh; jedes Mal wird es leichter, was er da zu tragen oder zu ertragen hat, bis er schließlich gar nichts mehr hat und sich leicht und frei fühlt.
Der gewisse Knick
Dass Erleuchtung als Ziel aus meinem Leben verschwunden ist, heißt aber nicht, dass es mir egal wäre, wie wach ein Mensch ist – und wie wach ich selbst bin, jeweils, von Moment zu Moment. Ich bin halt kein Erleuchtungsstreber mehr, so wie damals, als buddhistischer Mönch und als frisch gebackener Osho-Sannyasin.
Heute belustige ich mich über den »gewissen Knick« in der Biografie, wenn ich etwa in dieser Zeitschrift als Juxanzeige einen Hagiografie-Schreibkurs anbiete, in dem man lernt, seine eigene Biografie mithilfe eines Knicks in ein Vorher und ein Nachher einzuteilen. Da ist »es« passiert, das Unbeschreibliche, und wie bei den Fotos, die für eine Schlankheitskur werben, ist danach alles anders. Der Wettbewerb der von diesem Mysterium Ergriffenen besteht nun darin, wer das Unbeschreibliche als noch unbeschreiblicher anpreisen kann und darin der Ergriffenste und Sprachloseste ist. Solch religiöser Kitsch ist für einen Kabarettisten ja sehr leicht auf die Schippe zu nehmen.
Erwachen als transkulturelles Phänomen
Bei allem Spott über die hieraus entstandene spirituelle Szene und ihre Art der Selbstdarstellung bleibt jedoch etwas übrig: Es gibt solche Knicks. Sie sind von Individuum zu Individuum verschieden und auch von Kultur zu Kultur; auch deshalb ist ein Wort wie Satori so schwer zu übersetzen. Die deutschen Satsangfans würden sich von einem Begriff wie dem der »religiösen Umkehr« vermutlich mit Schaudern abwenden – das »Erwachen« auf dem Weg des Advaita Vedanta hat jedoch etwas von dem, was Christen und Juden oft schlicht »die Umkehr« nannten.
Vieles spricht dafür, dass es ein kulturübergreifendes Phänomen des Erwachens gibt. Das Erwachen aus einer Trance, die kulturell geprägt, aber von Kultur zu Kultur sehr verschieden ist. Das Aufwachen aus dieser Prägung ist ein entscheidender biografischer Schritt, ein Knick, eine Wende, ein Zu-sich-Kommen. Es kann jenseits aller kulturellen Grenzen, Prägungen, Konditionierungen, Bildungen und Indoktrinierungen Menschen miteinander verbinden, die vielleicht nicht einmal eine gemeinsame Sprache sprechen, denn nun sind sie zu ihrer Freiheit (von Prägungen und von Manipulierbarkeit) erwacht.
Weitere Kolumnen von: Wolf Schneider
|
|
|
Weitere Kolumnen von: Wolf Schneider
Radio-Interview mit Wolf Schneider:
Teil 1 -
Teil 2 -
Teil 3 -
Teil 4
Wolf Schneider
Wolf Schneider, Jahrgang 1952, studierte Naturwissenschaften und Philosophie in München. Schon während seines Studiums begab er sich auf Reisen. Die nächsten Jahre verbrachte er in Europa und Südasien, wo er ab 1976 als buddhistischer Mönch in Thailand lebte und von 1977-1990 Schüler von Osho war. Zurück in München gründete er 1985 die Zeitschrift connection, die noch heute als connection Spirit mit der Sonderheftreihe connection Special erscheint. Seinen 2005 gegründeten Verlag mit integrierter "Schule der Kommunikation" wandelte er Anfang 2008 erfolgreich in eine AG um. Im Connectionhaus veranstaltet er Jahrestrainings unter dem Motto: "Kreativität, Kommunikation und Inszenierung". Mit seiner offenen, ehrlichen und humorvollen Art zu kommunizieren, schenkte er uns ein wunderbares Theaterstück (Zauberkraft der Sprache) und zahlreiche Bücher, die uns Leser in eine spannende Welt der Spiritualität entführen. Sein neuestes Buch: "Das kleine Lexikon esoterischer Irrtümer" erscheint im August 2008 im Gütersloher Verlagshaus.
Zusätzliche Informationen:
» www.wolf-schneider.info
Weitere Texte von W. Schneider:
» www.schreibkunst.com
Connection AGWolf Schneider
»Info-Seite im Portal
www.connection.de
|